Der Leierkasten

•März 1, 2010 • Kommentar verfassen

Laufen ist wunderbar. Gar nicht das Laufen selbst, sondern vielmehr das Gefühl danach. Es mal wieder geschafft, gemacht zu haben. Den Schweinehund in seinem Stall gelassen, sein erbärmliches Flehen erfolgreich ignorierend, einfach losgelaufen zu sein. Dem Leben entgegen. Dem Tod ein Stück davon. Wenn man mich fragt, warum ich jogge, antworte ich: Eine lebensverlängernde Maßnahme, die sich gut anfühlt. Meistens jedenfalls. Heute nicht.

Es ist Ostersonntag und ein wolkenloser Himmel sorgt dafür, dass die Frühlingssonne den bis jetzt besten Eindruck in diesem noch jungen Frühling hinterlässt. Normalerweise laufe ich zwischen acht bis elf Kilometer. Das bedeutet, ich umrunde den nördlichen Teil von „Planten un Blomen“, ein wundervoller Park im Zentrum Hamburgs, vier bis sechsmal; je nachdem, wie ich in Form bin. Start und Ziel sind die Wallanlagen. Wie ich schon erwähnte, ist heute Ostersonntag und traumhaftes Wetter. Es ist kurz vor elf, und der Park ist schon jetzt voll mit Spaziergängern. Das Spießrutenlaufen bin ich gewohnt, da ich oft bei schönem Wetter Sonntags durch den Park laufe. Die vielen Menschen betrachte ich dann auf eine spielerische Art wie Malefizsteine. Sich langsam bewegende Hindernisse mit hoher Trägheit. Es gilt diese geschickt zu umlaufen, ohne sie zu berühren oder gar umzuwerfen.

Ich starte also zuversichtlich bei den Wallanlagen und laufe Richtung Norden. Nach zirka drei Minuten auf Höhe des Tropenhauses, nehme ich die ersten Töne eines Instrumentes wahr, das sich in jedem Jahr, sobald die ersten warmen Sonnenstrahlen den Erdboden erreichen, wieder trotzig aus dem Winterschlaf wagt. Der Leierkasten, der den meisten auch als Drehorgel bekannt ist. Wäre der Leierkasten ein Tier, wäre es schon längst ausgestorben. Dieses überflüssige, mit nervtötender Akustik ausgestattete Instrument aber hat es, aus unerklärlichen Gründen, bis in das neue Jahrtausend geschafft. Ähnlich wie das Kopfsteinpflaster. Nur stammt das tatsächlich aus der Vergangenheit. Die meisten Leierkästen degegen sind Nachbauten und stecken voll mit moderner Digitaltechnik. Auf Knopfdruck wird ein bestimmtes Lied abgespielt, und die Person hinter dem Kasten gaukelt uns vor, dass das Kurbeln die mechanische Voraussetzung für den auditiven Auswurf ist. Für mich gibt es keine armseligere Methode, ein Vollplayback zu präsentieren.

Das Geräusch kommt also bedrohlich näher. Ich laufe um die nächste Kurve und sehe den Mann mit der Knollennase, der hier immer steht, wenn das Wetter viele Parkbesucher verspricht. Als ich auf seiner Höhe bin, höre ich das Lied „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“. Ich laufe weiter und höre wie er mit dem grauenhaften Schlager „Rosamunde“ die Luft verpestet. Während der zweiten Runde beobachte ich die Passanten und bin mir sicher, dass sie alle dieselbe Abneigung für diesen Störenfried empfinden. Niemand wirft Geld in sein Döschen. Alle ignorieren ihn. Sein süffisantes Lächeln bestärkt mich in meiner Theorie, dass ihm die Sache großen Spaß macht, und er sich für eine wertvolle und unverzichtbare Bereicherung dieses Parks hält. Während meiner fünften und wie ich beschließe letzten Runde, werde ich fast von einer dicken Frau aus der Bahn geworfen. Sie hat soviel Masse, dass ich es mir kaum gelingt, ihrer Gravitation zu entkommen. Ich muss einen schnellen Sprung zur Seite machen, um eine Kollision zu vermeiden.

„Pass doch auf, du bist hier nicht alleine!“ schreit sie mir hinterher. Wahrscheinlich hat Sie sich ihre gute Laune auch von dem Akustikschrott verderben lassen.

Nachdem es mir gelungen ist ihr Kraftfeld zu verlassen, muss ich ein letztes mal an dem Leierkastenmann vorbei. Wie ferngesteuert werde ich plötzlich immer langsamer und langsamer, bis ich nur noch Schritttempo gehe, und direkt vor ihm zum Stehen komme. „Hör mal“, schreie ich, um den Lärm der Drehorgel zu übertönen.“Sind Sie sich eigentlich bewusst, wie sehr Sie den Menschen hier mit dieser akustischen Umweltverschmutzung auf die Nerven gehen? Wir kommen in diesen wundervollen Park, um uns zu erholen, um die Natur und Ruhe zu genießen oder uns sportlich zu betätigen. Und was machen Sie? Lärm. Unsäglichen, überflüssigen Lärm. Haben sie überhaupt eine Genehmigung?“

Er schaut mich an, und sein überheblich süffisantes Lächeln zerschmilzt wie eine Schneeflocke im Wasserdampf, während sein Gesichtsausdruck immer trauriger wird. In seinen Augenhöhlen bildet sich ein kleiner Rinnsal aus Tränen, der schließlich an seinen Wangen herab fließen. Nach einem Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlt, entgleisen seine Gesichtszüge endgültig. Es folgt ein Weinen, so unendlich traurig, so herzzerreißend und doch so still. Diese unerträgliche Stille, die entsteht, als er mitten im Lied die Kurbel anhält, um sich mit seinem Taschentuch die Tränen zu trocknen. Die Stille, die für einen Augenblick die ganze Welt einfriert.

Es dauert etwas, bis ich begreife, dass der Mann stumm, oder gar taubstumm sein muss. Ich spüre einen Kloß im Hals, merke wie mein Kinn zittert und wie diesmal meine eigenen Gesichtszüge entgleiten. Dann zieht er einen Zettel und einen Stift aus der Tasche und schreibt etwas auf. Er dreht den Zettel so, dass ich ihn lesen kann. Verschwommen und undeutlich sehe ich die vier Worte durch meine Tränen:

ES TUT MIR LEID.

Es fühlt sich an, als hätte mir jemand ganz unaufdringlich, ja behutsam, ein Messer in die Bauchhöhle geschoben. Langsam drehe ich den Zettel wieder in seine Richtung, lege meine rechte Hand auf mein Herz und zeige mit der Linken auf die vier Worte. Dann lasse ich mir und meinen Tränen freien Lauf.